„Selbständigkeit war kein Thema, ich wollte auch nicht mehr ausschliesslich im Kommunikationsbereich tätig sein. Der Tod einer mir nahestehenden Person hat einiges ausgelöst. Ich kündigte und nahm mir eine Auszeit.“
Einen konkreten Plan hatte Bojana Nikolic nicht, oder einen Traum, den sie endlich verwirklichen konnte. „Ich wusste, dass ich etwas mit Menschen, etwas Sinnvolles, vielschichtiges machen wollte.“ Sie ging zur Laufbahnberatung, die Gespräche und Tests deuteten auf eine Tätigkeit im sozialen Bereich hin: „Sozialarbeit interessierte mich aber nicht. Also entschied ich mich für eine Ausbildung zur Coachin / Integrationsberaterin.“
Die berufliche Laufbahn der Kommunikationsfachfrau verlief nicht geradlinig: „Ich habe nie eine Karriere im klassischen Sinn angestrebt. Aber überall, wo ich arbeitete, wurde ich immer schnell in eine verantwortungsvollere Position befördert“. So war sie lange in der Privatwirtschaft tätig, danach in NGOs und renommierten, grossen Unternehmen: „Prestige, Lohn und Boni stimmten. Ich denke, dass dies auch die Gründe sind, weshalb ich so lange an meinem Beruf festhielt. Als Tochter von Arbeitsmigranten der ersten Generation suchte ich Anerkennung und finanzielle Sicherheit.“
Jetzt aber wollte sie bewusst weniger. Ein Downsizing hätte in ihrem angestammten Beruf aber niemals geklappt: „Wer stellt schon eine ehemalige Stabsangestellte als einfache Mitarbeiterin ein.“ Durch ihre Umorientierung und den Branchenwechsel konnte sie neu anfangen. „Mit dem Prestigeverlust tat ich mich nur kurz schwer. Die Lohneinbusse ist happig, ich verdiene die Hälfte von meinem früheren Lohn. Dafür muss ich nicht mehr 7×24 erreichbar sein. Ich bin heute viel zufriedener.
Meine Arbeit als Coachin von Arbeitsmigrantinnen und -migranten erfüllt mich. Der Job ist nicht weniger anspruchsvoll als vorher, im Gegenteil. Und der Lohn steht in keinem Verhältnis zur geleisteten Arbeit. Meine KlientInnen sind oft mehrfach belastet, misstrauisch, resigniert. Ihr Vertrauen zu gewinnen ist bereits ein grosser Erfolg. Als Seconda habe ich einen speziellen Zugang zu ihnen. Ich habe in meinem Berufsleben viele Stationen durchlaufen, positive und negative Erfahrungen gemacht, aus jeder etwas gelernt. Aus den schwierigen mehr als aus den schönen. Dies kommt mir heute zugute.“
Die Arbeit ist intensiv: „Aber ich komme jeden Abend erfüllt nach Hause und stehe jeden Morgen gerne auf.“
Die freischaffende Journalistin ist 2020 fünfzig geworden und schloss zur selben Zeit eine Weiterbildung an der Universität Fribourg ab, den CAS «Lebenserzählungen und Lebensgeschichten».
Wohin das neue Wissen sie treiben würde, wusste sie zu dem Zeitpunkt noch nicht. «Ich hatte einfach grosse Lust, meine Aufmerksamkeit auch ohne journalistische Absicht anderen Menschen zu schenken.»
Als Mutter einer fünfjährigen Tochter und zu gleichen Teilen am Familieneinkommen beteiligt, schien der Zeitpunkt für Experimente nicht gerade ideal: «Ich fragte mich natürlich schon: wäre es nicht viel schlauer in solchen Zeiten, eine Festanstellung anzustreben? Meine Lebensgeschichten-Pläne schienen mir plötzlich ganz unprak-tisch und zeitlich unpassend. Am Wert der Weiterbildung zweifelte ich aber keine Sekunde», sagt die Journalistin.
Esther Banz schreibt unter anderem Geschichten über die Verdrängungsprozesse auf dem städtischen Immobilienmarkt – und was sie mit den Menschen machen. «Wenn ich journalistisch arbeite, forsche ich. Ich suche Wahrheit, Zusammenhänge und Bedeutungen. Beim lebensgeschichtlichen Erzählen verfolge ich keine Absicht ausser der, Menschen eine Gelegenheit zu geben, ihr Leben, ihre Geschichten zu erzählen. In ihren eigenen Worten und Gewichtungen.»
Sie höre allen gerne zu, «besonders aber Frauen, die meinen, ihr Leben sei doch gar nicht so interessant – jedes Leben ist ein Schatz an Erfahrung und Wissen, jedes erzählt auch etwas über Orte, Zeiten, die Gesellschaft.» Trotzdem wusste sie nicht recht wie anfangen, sie haderte. Eine befreundete Künstlerin gab ihr den Motivations-Klapps, den sie brauchte: «Jetzt fang doch einfach mal an!» Und Esther Banz fing an. Und zwar mit dem Interviewen von Menschen, die als Kind ihre Mutter oder ihren Vater oder beide verloren haben.
Das ist auch ihr Thema: «Ich war 8 Jahre alt, als mein Vater starb. 42 Jahre später füllen sich meine Augen noch immer mit Tränen, wenn ich an ihn denke, auch nur flüchtig. Bis vor kurzem war mir das extrem peinlich. Ich schämte mich für meine Tränen und meine Trauer, soweit ich zurück denken kann.» Sie widmete ihre Abschlussarbeit der Frage zur Trauer, von der man meint, man müsste sie schon längst „überwunden“ haben.» Während des Lockdowns war sie für drei Wochen alleine in die Bergen, mit Bergen von Fachliteratur, Post-it und Taschentüchern. Ihr Mann schaute zur Tochter. «Es tut gut, wenn die Trauer um einen geliebten verstorbenen Menschen bleiben darf, wenn sie nicht überwunden werden muss.» Sie wünscht sich Gelegenheiten, zu denen sich Menschen gegenseitig von ihrenToten erzählen: «Ganz unabhängig davon, wie die Beziehung war. Ein wiederkehrendes Ritual könnte das ermöglichen, es darf auch ein Fest sein, bei dem geweint und gelacht wird. Geschichten und Erinnerungen bringen uns nicht nur die Toten wieder näher – es entsteht auch eine Nähe zwischen Erzählenden und Zuhörenden.»
Es war der 3. September 2015. Das Bild von Aylan Kurdi ging um die Welt.
Der Dreijährige starb zusammen mit seinem Bruder und seiner Mutter auf der Flucht vor dem Krieg in Syrien. Seine Leiche wurde an den Strand von Bodrum geschwemmt. Raquel Herzog stand in dieser Septembernacht noch einmal auf und buchte ein Ticket nach Lesbos: «Einen Monat später begann nur Stunden nach meiner Landung meine Zeit als freiwillige Seenotretterin auf Lesbos.»
Und bald darauf gründete sie die NGO «SAO Association- für Frauen auf der Flucht», die heute in Griechenland 18 Mitarbeiterinnen zählt. Der Fokus auf Frauen ist aus der Begegnung mit der 93-jährigen Amina und ihren 4 Enkelinnen entstanden. Raquel hatte die fünf Frauen nach 4 Stunden Suche in einem kleinen Fischerdorf gefunden. Am internationalen Frauentag 2016! Raquel und die 5 kurdischen Frauen teilten sich für 4 Monate eine Wohnung auf Lesbos. «Das hat mir die Augen geöffnet, für die spezifischen Probleme, denen Frauen auf der Flucht ausgesetzt sind.»
Besonders stolz ist Raquel Herzog auf ihre Mitarbeiterinnen im Feld: «Dadurch, dass wir auf die Trauma-orientierte, psychosoziale Unterstützung für allein flüchtende Frauen und Mütter spezialisiert sind, sind unsere Mitarbeiterinnen täglich mit den schrecklichen Erlebnissen der Frauen konfrontiert.» Im Bashria Centre auf Lesbos erhalten allein flüchtende Frauen, die im Lager Moria2.0 leben, einen Rückzugsort und dringend benötigte Unterstützung. Die Zustände im provisorischen Zeltlager sind desolat, es fehlt an allem, auch am Nötigsten. Gewalt und Belästigungen sind alltäglich. Raquel Herzog sagt: «Die Situation von Geflüchteten in Griechenland hat sich in den fünf Jahren meiner Tätigkeit zunehmend verschlechtert – das macht mich ohnmächtig und auch hässig. Man muss sich aber immer wieder darauf konzentrieren, dass man im Kleinen, für eine einzelne krebskranke Frau und ihr Kind zum Beispiel etwas Wichtiges tun kann.“ Raquel Herzog war 20 Jahre selbständig im Live Entertainment Business tätig, als Fernseh-Produzentin, in der Produktionsleitung von Freilicht-Opern, als Variétédirektorin, als Regieassistentin bei Musicals. „Ich war also schon immer in einem Umfeld tätig, wo Improvisationstalent und Troubleshooting-Qualitäten gefragt waren – das kommt mir jetzt zugute. Anfangs liess ich meine Einzelfirma parallel weiterlaufen, Ende 2016 habe ich diese Tätigkeit dann ganz aufgegeben, weil mich die innere Aufmerksamkeit immer wieder nach Lesbos zog.“
«Ja», sagt Raquel Herzog, «es gibt immer wieder Momente, in denen ich aufgeben möchte, mich wieder einer «leichteren Kost» widmen möchte – aber es ist im Team immer eine da, die noch Energie hat und die anderen wieder mitzieht. Und ehrlich gesagt, kann ich’s auch nicht lassen, diesem Zeitgeist etwas entgegen zu halten und immer wieder an die Menschlichkeit zu appellieren. Es wird immer noch viel zu wenig über Frauen auf der Flucht geredet – das soll sich ändern!“
Dann aber fragte ihre Ergotherapeutin, ob nicht vielleicht doch auch etwas Wut mitschwingt. Da nahm Brigitte Rüger ein Stück Lehm in die Hand und knallte es zu Boden. Doch. Da war auch Wut.
Siebenundzwanzig Jahre lang hatte die ausgebildete Onkologiepflegerin für dieselbe Station gearbeitet. Sie hat sie mit aufgebaut und über viele Jahre auch geleitet. Und dann die Kündigung. „Man sagte mir, ich sei ein zu grosser finanzieller Risikofaktor“, sagt Brigitte Rüger.
Zwei Jahre lang hatte sie viel Zeit als Patientin im Krankenhaus verbracht. Angefangen hatte es mit einem Hämatom in der Bauchdecke nach einer Bauchspiegelung. So gross wie ein Fussball. Das Blut suchte einen Ausgang über eines der Spiegelungslöcher, drückte das Loch noch weiter auf. Und dieses Loch wollte sich nicht mehr schliessen. Es entzündete sich, machte Abszesse. Es kam zu Blutvergiftungen, septischem Schock, Antibiotikaresistenzen. Es hörte nicht mehr auf. Vierzig Narkosen. Vakuumverbände. Immer wieder von vorne anfangen.
„Ich bin nicht ganz unschuldig“, sagt Brigitte Rüger. „Mein Verhalten hat sicher nicht geholfen, dass es besser wird.“ Als der Arzt sie das erste Mal etwas bremsen wollte, hat sie so lange auf ihn eingeredet, dass er sie statt für 100 Prozent nur für 50 Prozent krank schrieb. „Ich dachte, ohne mich geht es nicht“, lacht Brigitte Rüger. Die Arbeit war ihr Leben. Und dann als sie nach zweijähriger Krankheit wieder zurück kam, wurde sie mit der Kündigung konfrontiert. Dass sie auf einen nicht tragbaren wirtschaftlichen Faktor reduziert wurde, war schmerzhaft. Und das an einem Ort, wo es tagtäglich um Gesundheit geht.
Psychiatrische Begleitung, gestalterisches Arbeiten, Spaziergänge und eine Auszeit in Susch halfen Brigitte Rüger diesen Schicksalsschlag zu bewältigen. Vielleicht half auch ihr Humor. „Der war allerdings manchmal sehr schwarz“, fügt Brigitte Rüger hinzu. Heute verkauft sie Infusionspumpen, Infusionsbesteck, sehr viele onkologische Produkte, ein breites Sortiment. In die Pflege zurück wollte sie nicht. „Es wäre gewesen, als hätte ich mein Kind, das zur Adoption freigegeben wurde, durch ein anderes ersetzt.“ Ihre jetzige Stelle ist vielseitig und spannend und am Wochenende schleift sie Speckstein. „Le Bonheur“, sagt sie.
Und sie hat Strategien entwickelt, wie sie sich schützt. Wie sie zu sich selber schaut und auf sich hört. „Es war ein schwieriger Weg. Aber ich bin so stark wie noch nie zuvor. Der Mensch erträgt vieles. Das habe ich schon in meiner Arbeit auf der Onkologie gesehen. Wie die Menschen mit der Diagnose Krebs umgehen, diese als Tatsache in ihr Leben integrieren, das hat mich immer mit Bewunderung erfüllt.“
Ursprünglich hat sie eine kaufmännische Ausbildung gemacht. Später dann war sie Hausfrau und Politikerin, engagiert im Quartierverein, als Stiftungsrätin vom Frauenhaus und Co-Präsidentin beim WWF St. Gallen. «Viel Freiwilligenarbeit», sagt sie. «Und diese Freiwilligenarbeit war schlussendlich der Schlüssel zu dieser Stelle. Ich hatte so viele verschiedene Funktionen. Man hat mich gekannt.»
Zwölf Jahre lang war sie Kantonsrätin im Kanton St. Gallen, als erste grüne Frau in einer ständigen Kommission. Und zur Politik ist sie gekommen, weil sie 1986 angefragt wurde, ob sie auf die erste grüne Nationalratsliste St. Gallens möchte. Sie las auf der Wahlplattform durch worum es ging: keine Waffenexporte, Gleichberechtigung, alle AKWs dicht machen, Naturschutz. «Ich konnte überall ein geistiges Häkchen setzen», sagt sie, «und das stimmt für mich bis heute.» Mit vierundvierzig Jahren hat sie angefangen, Soziokulturelle Animation zu studieren. «Eine kluge Frau sagte zu mir: «Für dich gibt es eine Ausbildung.» Und sie hatte recht. Soziokulturelle Animation war damals ein neuer Studiengang und kein Mensch wusste, was das eigentlich ist. Das gab mir viel Freiheit, viel Gestaltungsraum, ich konnte selber kreieren.» Und dann also nahm Cécile Rose Federer mit 56 Jahren die Stelle an, die so vieles beinhaltete, was ihr wichtig ist. Sie startete im Leitungsteam der Dargebotenen Hand und war dort zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit. «Und wenn man denkt, es braucht eine einzelne Person, die ein Team leitet, ist das Blödsinn. Wir waren zu viert und es hat perfekt funktioniert. Wichtige Sachen haben wir gemeinsam uuskäset und immer zusammen geschaut, wo wir hin wollen.» Aus der Ausbildung konnte sie vieles mitnehmen. Zum Beispiel, wie man verschiedenen Anspruchsgruppen gerecht wird. Einerseits waren da die verzweifelten Menschen, die anrufen, dann diejenigen, die das Projekt finanziell mittragen und drittens, die Menschen, die sich vorstellen können, die Arbeit am Telefon unentgeltlich zu machen. 143 ist die Nummer, wo man anonym das Herz ausschütten kann. Freiwillige schenken Menschen Zeit. Machen ihnen Mut für den Tag. Stellen die richtigen Fragen. Vermitteln Nähe. Sind auch in der Nacht da. In den Gesprächen geht es häufig um Einsamkeit. Um Verzweiflung. Hin und wieder melden sich diese Menschen später. Eine Frau hat einmal gesagt: «Das Telefon hat mich vor dem Suizid bewahrt. Ich konnte einfach eine Stunde lang ins Telefon weinen und niemand hat mich gestoppt.» PS: das ist die vierte Geschichte in der Reihe fuefzgi_undmeh. Von Frauen, die mit über fünfzig beruflich noch einmal ganz Neues angepackt haben.
Tausende von englischen, spanischen und französischen Musterbriefen hat Ileana Heer Castelletti in den vierzig Jahren vor ihrer Reise nach Griechenland für Amnesty International verfasst. Musterbriefe, welche von Freiwilligen als Appelbriefe an Präsidentinnen und Präsidenten, an Staatsanwältinnen und Gefängnisdirektoren geschickt wurden.
Ein langjähriges Engagement voller Herz und Ausdauer, vom Schreibtisch aus aber auch auf der Strasse bei Aktionen. Unentwegt im Einsatz für die Menschenrechte. Und dann im Jahr 2015 als Menschenströme aus Kriegs- und Krisengebieten übers Meer nach Europa kamen, sass Ileana Heer Castelletti vor dem Fernseher und es brach ihre beinahe das Herz. Diese Menschen zu sehen, die alles zurück gelassen hatten und von Europa nicht gewollt waren, erfüllte sie mit Ohnmacht.
Zufällig fand sie unter einem Bericht über die Organisation Schwizerchrüz eine e-Mail-Adresse und dachte sich, ich will vor Ort sein. Für die Menschlichkeit. Und sie schrieb eine Nachricht, dass sie helfen will, dachte, vielleicht erhalte ich nie eine Antwort. Aber am Heiligabend kam ein Anruf und am 5. Januar flog sie nach Lesbos. Die ersten Tage schälte sie Kartoffeln und sortierte Kleider für die Flüchtlinge. Vor dem nächtlichen Dienst am Strand hatte sie Respekt. Dann aber nach zehn Tagen, atmete sie tief durch und trug sich auf der Liste ein.
Mit klammem Herz ging sie am Strand den Booten der Flüchtenden entgegen. Siebenmal war sie für jeweils einen Monat im Einsatz, in Lesbos, Saloniki, Samos und in Idomeni an der mazedonischen Grenze. Sie ging von Zelt zu Zelt, fragte, was die Menschen brauchen, Socken, Windeln, Wasser, Binden und las am Strand die Schwimmwesten auf, brachte sie zum Schwimmwestenfriedhof. «Das Wenige, was ich geben kann, kann ich geben. Menschliche Nähe. Und wenn jemand weint, ihn einfach umarmen oder mit ihm weinen. Oder mit einem Kind spielen.» Momente der Unbeschwertheit und des Mitgefühls schenken. Den Menschen die Zuversicht geben, dass sie willkommen sind.
Zurück in der Schweiz engagiert sie sich am Grenzübergang von Chiasso. Auch hier sieht sie all diese Ungerechtigkeit, Minderjährige, die nicht angehört und wieder zurückgeschickt werden ohne dass sie überhaupt einen Asylantrag stellen können. «Ich habe genügend Wut», sagt sie, «jetzt riskiere ich auch mehr.» Ileanas Geschichte ist die zweite in der Porträtserie fuefzgi_undmeh. Frauen erzählen, was sie nach fünfzig noch Neues in Angriff genommen haben. Danke Ileana Heer Castelletti für diese Geschichte und dein grosses Engagement.
Aber wenn sie mitten drin steckt, dann ist sie überzeugt, dass sie da nie mehr raus kommt.
Annie ist Landschaftsgärtnerin. Auf dem Friedhof hat sie Gräber gepflegt. Und sie hat den Park mitgestaltet. War draussen, wenn es nass war. Und war draussen, wenn es kalt war. Und sie war Zahntechnikerin. Wenn der Zahnersatz nicht als Zahnersatz zu erkennen war, freute sie sich. Präzise arbeitet sie auch beim Zeichnen. Die Künstlerin zeichnet Augen. So lebensecht wie möglich. Freunde schicken ihr Augen-Fotos und Annie Hanisch zeichnet sie ab.
Als sie fünfzehn war, dachte man, sie sei faul. Ein Arzt stellte dann erst viel später die Diagnose. Bipolare Störung. Das hat ihr und ihrer Umgebung geholfen. Zu wissen, was es ist. Da waren die rastlosen Phasen. Herzrasen, immer unter Strom, total enthemmt war sie, mischte sich in jedes Gespräch ein, und fühlte sich gleichzeitig beobachtet, sprach dann ganz leise, dachte jemand lauscht. Ass nicht, schlief nicht. Und nach den manischen Phasen das Loch. Wo sie dachte, sie sei an allem schuld. An allem. Und als die Gedanken sich nur noch um Suizid drehten, schaffte sie es, in die Klinik zu gehen.
„Das hat mir dort sehr gut getan. Alle hatten Zeit für mich. Der Start in ein neues Leben“, sagt Annie Hanisch. Bezahlter Arbeit kann sie heute nicht mehr nachgehen. Die manischen Phasen hat sie zwar überwunden. Aber die depressiven Phasen treten zu unvermittelt und lange auf. Und trotzdem arbeitet sie. Unentgeltlich. Zum Beispiel auf Lesbos. Wo sie zweimal war. Im Team von Michael Räber vom Schwizerchrüz bei der Seenotrettung geflüchteter Menschen. Oder als Moderatorin beim Radio Stadtfilter. Ihre Sendung heisst „Der Anfang vom Ende.“ Die Morgensendung mit viel Musik und Informationen zur Woche. Drei Stunden Ausschlafen mit Radio Stadtfilter. Annie Hanisch wählt auch die Musik aus.
Und sie arbeitet an sich. „Muss halt extrem achtsam sein“, sagt sie, „zu unterscheiden, was normal ist und was Anzeichen einer Depression sind, fällt mir noch schwer. Genügend Schlaf ist wichtig! Ein, zwei Nächte ohne Schlaf vor Mitternacht sind Gift für meine Psyche.“ Sie sind immer noch da. Die Depressionen. Zwei bis dreimal pro Jahr für mehrere Monate. „Aber nicht mehr so stark wie früher.“ Und sie hat das Schneidern neu für sich entdeckt. „Ich mache aus zwei, drei getragenen Sachen ein neues Teil…oder etwas ganz Neues. Nach eigenem Entwurf.“ PS: in das von Julia gemalte Bild, sind die von Annie gemalten Augenkunstwerke eingefügt.
Stini Arn ist Klangforscherin und Komponistin. Und sie webt. Bei Stini Arn Madame Mallé wird der Webstuhl zum Musikinstrument, die Webstube zur Soundinstallation. Am Theater Spektakel 2011 zum Beispiel hat Stini Arn Musikerinnen und Musiker eingeladen, mit dem Webstuhl zu interagieren, ihn zu stimmen, zu sampeln, zu bespielen und zu begleiten.
Das hat sie auch 2012 im bündnerischen Pignia getan. Ein Tonabnehmer verstärkte die Rhythmen des Webstuhls. Die Töne der Instrumente verwoben sich mit dem Klang des arbeitenden Webstuhls. Danach war sie immer öfter in Mali, wo sie diese Installation seit langem machen will: «Stoff und Musik sind wichtig in Mali, darum fände ich es so spannend, besonders weil elektronische Musik und installative Kunst hier in Mali kaum existieren. Mein Nachbar in Daoudabougou wurde auf meine Idee aufmerksam und hat mich während drei Jahren beackert, dass ich mit ihm einen Webstuhl baue, nach einem Plan vom Deutschen Weber Andreas Möller, bei dem ich mal in einem Webkurs war und den wir gerne nach Mali eingeladen hätten…was aber vor allem finanziell schwierig war. Und so kam es, dass ich mich ins Weben reinkniete und zusammen mit Ousmane bauen und weben lerne. Er findet zwar immer ich sei die grosse Webmeisterin. In Mali weben traditionell nur die Männer und die Frauen spinnen. Aber es gibt inzwischen auch hie und da webende Frauen, doch die alte Mechanik braucht viel Kraft. Darum hat Andreas Möller versucht mit dem Flying8-Webstuhl das Weben ergonomischer und ökonomischer zu machen, der Webstuhl ist viel leichter zu handhaben.» Die Geräusche sprechen. Da ist das Geräusch des Schiffchens. Die Weberin schiebt es durch und schlägt an. Schiebt es durch und schlägt an. Die Werkzeuge sprechen. «C’est mieux de parler. Damit grüsst man», sagt ein Weber in Mali, dem Stini Arn während ihrer Hörstückproduktion begegnet. Die Künstlerin hat neben zahlreichen Musik-, Theater-, Kunst- und Hörspielprojekten auch ein Hörstück für DRS2 produziert, das den Alltagsrhythmen und den Klängen der Handarbeit in Mali gewidmet ist. Stini Arn ist 54 Jahre alt und lebt seit sieben Jahren in Bamako, der Hauptstadt des westafrikanischen Landes. In Mali wird sie Christina genannt und am Conservatoire, der Kunsthochschule von Bamako, wo sie Produkt- und Sounddesign unterrichtet, ist sie bekannt als Madame Mallé. «Ich lebe in Mali vor allem auch wegen meinem Malischen Mann. Ich bin in seine Grossfamilie gezogen. Auf das Dach von seinem Haus baute ich dann 2014 das erste Atelier, das Atelier Yiriba.» Yiriba bedeutet grosser Baum, weil im Hof der grösste Baum vom Quartier steht. «2020 sind wir in ein anderes Quartier umgezogen, wo jetzt Weben und Atelier für Kinder an einem Ort sind, im Centre Yiriba.». Zur Eröffnung haben die Kinder, die Mauern des Gebäudes mit Farbe aus Erde, Wasser und Leim bemalt. Im Atelier Yiriba wird gewoben, gemalt und gebacken. Eine offene und inspirierende Lernumgebung für alle, die kommen wollen. Ausserdem geht es darum, lokales Wissen zu erhalten und die einheimische Baumwolle zu feiern. Mali ist einer der grössten Baumwoll-Produzenten Afrikas, trotzdem werden die meisten der Baumwollstoffe importiert. Stini Arn schreibt: «In unserem Atelier in Bamako wertschätzen wir die einheimische Baumwolle. Damit schaffen wir Arbeitsplätze, aber auch einen Ort des gemeinsamen Lernens für eine Zukunft mit kreativen Einsichten und Aussichten.“
Und dann kam alles anders. Nach dem Kindergartenseminar zählten Maria Hofstetters erste Klassen über vierzig Kinder. Das war damals so üblich. 1963. Später dann, als ihre eigenen beiden Kinder noch klein waren, arbeitete sie in einer winzigen Landgemeinde und in der Klasse waren nur neun Kinder.
Und noch später während ihrer Zeit als Hausfrau und Mutter hat Maria Hofstetter viel Freiwilligenarbeit geleistet. „Ich war im Vorstand des sehr aktiven Frauenvereins, war Puppenspielerin, hatte Pflegekinder und habe im Altersheim und im Heim für Menschen mit einer Beeinträchtigung die Bewohnerinnen und Bewohner besucht.“ Menschen aus Sri Lanka und dem Libanon kamen zu dieser Zeit auf ihrer Flucht vor Krieg und Armut in das Dorf, in dem María Hofstetter lebte. Und sie übernahm die Aufgabe, diesen Männern das Einleben in der Schweiz zu erleichtern. Ausserdem wurde sie als Kindergarteninspektorin angestellt. Und wenn eine Kindergärtnerin ausfiel, ist sie als Vikarin eingesprungen.
Aber der Beruf der Kindergärtnerin hat sie belastet: „Als ich 48 war, begann ich zu überlegen, was ich Neues machen könnte.“ Da es zu jener Zeit aber einen Mangel an Kindergärtnerinnen hatte, liess sie sich überreden, nochmals eine 70% Stelle anzunehmen: „Aber wieder dachte ich, ich habe für diesen Beruf einfach nicht die Kraft, und ich überlegte, auszusteigen.“ Dann jedoch zog ihr Ehemann aus der gemeinsamen Wohnung aus. Ein Schock. Und es gab nichts mehr zu überlegen: „ich musste als Kindergärtnerin weiter arbeiten, ob ich wollte oder nicht und weil plötzlich kein Kindergärtnerinnenmangel mehr bestand, wurde mir nahe gelegt, nun 100% zu arbeiten.“ Und so kam es, dass sie noch 16 weitere Jahre bis zur Pensionierung in diesem Beruf arbeitete.
Und die Freude am Beruf und an den Kindern kam zurück. Es gelang ihr, ihre eigene Begeisterung für die Natur, den Kindern weiterzugeben. Sie waren viel draussen unterwegs. Und die Kinder wurden zu kleinen Expertinnen und Experten, die ihren Müttern und Vätern genau berichten konnten, wie sich die Kaulquappe in den Frosch und die Raupe in den Schmetterling verwandelt. Sie waren selber dabei gewesen, als das geschah und hatten die Metamorphose mittels Zeichnungen protokolliert. „Und jedes Jahr nahmen wir uns viel Zeit für das Erarbeiten einer Theatervorführung. Bunte Requisiten, Zaubertricks und Tänze gehörten da immer unbedingt dazu“, erzählt die Kindergärtnerin weiter. Die Eltern der Kindergartenklassen nahmen Teil am Kindergartenalltag. Ein Vater stellte für ein Fest ein riesiges Tipi auf, eine Mutter brachte allen Kindern ein Singspiel aus ihrer Heimat bei, ein Vater trainierte mit der ganzen Klasse in der Turnhalle Fussball.
So hat Maria Hofstetter zwar mit fünfzig beruflich nicht etwas ganz Neues angepackt, aber sie hat ihren Beruf neu entdeckt und ihn mit grossem Engagement und ebenso grosser Leidenschaft ausgeübt.
«Ich kann in jedem Alter Menschen helfen, ihre Gesundheit durch Bewegung und gezieltes Training zu optimieren. Die Kunden werden ja auch älter… “
Die Personaltrainerin ist seit ihrer Kindheit von Sport und Gymnastik begeistert.
Körperliche Leistung, die Kraftverteilung der Muskulatur, die Beweglichkeit der Gelenke, die Einflüsse der Ernährung auf unseren Körper haben sie schon immer fasziniert. Im Training mit ihren Kundinnen und Kunden hat sie gelernt, dass die psychische Gesundheit sehr stark mit der physischen Gesundheit zusammenhängt. Körperliche Fitness ist ein wichtiger Baustein in der Entstehung und Erhaltung von Glück und Glücksgefühlen: „Als ich die Grundausbildung machte, hatte ich ein Zeitfenster von 10 Jahren für den Beruf vorgesehen. Mit 50 kam die Selbständigkeit dazu und das Angebot änderte sich immer wieder, je nach Kundenwünschen und Situation. Da es immer Menschen gibt, die gerne mit mir trainieren, ist älter werden kein Hindernis, weiter zu machen.“
Begonnen hatte alles damit, dass ihr Jüngster in den Kindergarten kam und sie plötzlich wieder über einen Teil ihrer Zeit frei verfügen konnte. Sie machte eine Grundausbildung zur Gymnastik-Lehrerin und arbeitete in Fitness-Studios und -Zentren. „Mit 50 liessen mein Mann und ich uns scheiden. Das hiess: ab da war ich für meinen Lebensunterhalt alleine verantwortlich. Im Angestelltenverhältnis ist das in der Fitnessbranche allerdings kaum möglich.“ Bei einer Wanderung im Tessin beschäftigte sie der Gedanke, was ein möglicher Ausweg wäre und sie entschied sich für die Selbständigkeit.
Mit einer Spezialisierung für alles, was mit Rücken und Haltung zu tun hat und einer Ausbildung zur Personal-Trainerin und Expertin für Erwachsenensport fühlte sie sich gerüstet, Einzelunterricht anzubieten. „Damals war dieses Modell noch nicht so verbreitet und ich hatte in kurzer Zeit 5 – 10 Kunden pro Woche. Nebenbei konnte ich in verschiedenen Firmen „Pilates“ anbieten und für Kleingruppen mit individuell angepasstem Training mietete ich mich in Studios ein. So ergab sich ein abwechslungsreiches Programm und dank tiefer Lebenshaltungskosten, reichte es für ein freies Leben, wie ich es mir vorstelle.“
Ursprünglich hat Bea Arnold die Handelsschule gemacht, eine solide Grundausbildung: „Büroarbeit machte mich aber nicht glücklich. So blieb ich, als ich Kinder wollte, zu Hause zu und engagierte mich neben der Familie ehrenamtlich in Vereinen, Stiftungen, Interessengruppen.“ In der Gymnastik und beim Arbeiten mit Menschen hat Bea Arnold nun ihre Berufung gefunden und kann ihr Bedürfnis nach Bewegung im Beruf ausleben. In den letzten 4 Jahren hat ihr Leben wieder eine neue Richtung eingeschlagen und sie arbeitet darauf hin, ein Angebot „Personal Training über Skype/Zoom/FaceTime etc“ anzubieten. „Anlass dazu ist, dass ich plane, in den nächsten Jahren etwas abgelegen im Jura, in der Natur zu leben. Gedacht ist das Projekt als Ergänzung zum klassischen Personal Training bei den Kunden.“
Die ausgebildete Zeichnungslehrerin unterrichtete lange am Gymnasium. Heute hat sie sich auf die Beratung und Begleitung emotional-sensitiver und künstlerisch und visuell begabter Kinder und Jugendlichen, und deren Eltern spezialisiert.
„Künstlerisch begabte Kinder kommen oft nicht zu einem guten Unterricht. Das ist fatal“, sagt Kathrin Berweger. „Zu oft läuft Kunst an der Schule unter ferner liefen.“ In ihren Coachings geht es ums Ganze, um Kunst und räumliches Gestalten aber auch um Fragestellungen zum Selbstvertrauen, der Gefühlsregulierung, der Konzentration und Aufmerksamkeit. Als Gymnasiallehrerin hat Kathrin Berweger 120 Jugendliche pro Woche unterrichtet. Jetzt schätzt sie das sorgsame, individualisierte Arbeiten. Manche hochbegabten und hochsensiblen Kinder arbeiten langsam. Jedes Detail ist ihnen wichtig. Deshalb hat auch das Gespräch über die Geschwindigkeit Raum. Schnell rennen braucht Tempo. Anderes aber braucht Zeit. Wann ist Geschwindigkeit wichtig? Wann sorgfältiges und detailliertes Arbeiten? Kathrin nähert sich diesen Fragen gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen und probiert mit ihnen aus, wie es sich anfühlt, wenn man auch einmal etwas einfach so stehen lässt, wie es ist.
„Viele der Kinder und Jugendlichen, die zu mir kommen, haben sehr hohe Ansprüche an sich. Gerade auch deshalb ist es so wichtig, dass sie lernen, sich selbst nah zu sein, dass sie den inneren Goldschatz in sich spüren.“ Und wenn dann ein Kind, in die Arbeit vertieft zu sich selber sagt: „Ou, guät gmacht“, sind das wichtige Momente.
Mit fünfzig hat Kathrin Berweger zusätzlich die Marte-Meo Ausbildung angefangen. Die videobasierte Methode richtet den Blick vertieft auf gelingende menschliche Interaktionen. Im Prozess werden die Beteiligten im Video aufgezeichnet und anschließend werden die gefilmten Situationen ausgewertet. „Natürlich ist es am Anfang etwas gewöhnungsbedürftig, sich so gefilmt zu sehen“, sagt Kathrin Berweger. „Ich zum Beispiel dachte über meine Stimme: „oh nei, diese Tonlage. Scho chli zackig.“ Aber eigentlich geht es bei der Marte Meo Methode um die gelingenden Momente und die nächsten hilfreichen Schritte. Auch im Elterngespräch.
Wir alle machen intuitiv vieles gut, legen den Fokus aber häufig auf das, was schief läuft – gerade in schwierigen Lebensphasen. Das Medium Film ermöglicht in der Beratung, gemeinsam auf eine konkrete, persönliche Interaktionssituation zu schauen. Das dichte Geschehen wird verlangsamt. Kathrin Berweger schneidet Mikro-Sequenzen aus dem Film heraus und die Kinder, Jugendlichen und Eltern beobachten sich selber dabei, wie gut sie es eigentlich machen. Das sind Bilder, die eine tiefe Kraft erzeugen. Kathrin Berweger ist zufrieden, dass sie den Schritt in die Selbständigkeit gewagt hat: „In die Welt, emotional-sensitiver Kinder einzutauchen, zusammen im Kontakt zu ihrer Welt sein, zusammen an ihrem Weg arbeiten…und dabei sein, wenn sie in ihrer Entwicklung einen grossen Gump vorwärts kommen… Ich lerne immer wieder neue Nuancen und Facetten kennen. Das ist bereichernd.“
„Ich habe Glücksmomente erlebt da draussen in der Natur, für die ich alleine verantwortlich war. Was für ein gutes Lebensgefühl.“ Die gelernte Coiffeuse hat nach 25 Jahren in ihrem Beruf und langen Jahren im eigenen Coiffeurgeschäft etwas ganz Neues gewagt und ist Naturvermittlerin geworden. Ihr Unternehmen heisst „Wildwechsel“.
„Ich war mit Leib und Seele Coiffeuese, ich liebte mein Handwerk und meine Kundinnen und Kunden sagten, dass ich eine gute Coiffeuese war. Als ich merkte, dass sich so vieles wiederholt, wurde ich müde. Müde im Körper, Geist und vor allem in der Seele. Die Wiederholungen zeigten sich in der Mode, in den Kundengespräche, in der Ausbildung der jungen Fachfrauen.“
Und sie fragte sich, ob sie die Kraft hat, diese Herausforderung noch bis 65-ig zu meistern. Während eines längeren Time Outs war Regula Jäger draussen. Einfach draussen. Bei Wind und Wetter. In diesem Jahr hat sie gemerkt, was sie wirklich tun will. Und heute begrüsst sie ihre Kundinnen und Kunden mit einer Einladung zurück auf Neuland: „Dahin ist es nicht weit.“ Und sie fragt: „Sind wir nicht viel zu wenig langsam?“
Die Erlebnispädagogin begleitet ihre Gäste zu Naturerfahrungen unter freiem Himmel und zeigt ihnen alles über essbare Wildkräuter, Beeren und Blüten. Sie lacht, wenn sie zurück denkt, an ihre ersten Tage mit Wildwechsel: „die Herausforderung war jetzt, dass es keine Wiederholungen gab! Alles war neu, jeder Handgriff, jeder Gedanke, jede Idee.“ Aber sie genoss es. Sie probierte aus, improvisierte, verwarf und fing wieder neu an.
„Mein Wirken mit Menschen in der Natur sind bis heute schöne Erlebnisse, weil die Momente dicht sind, selbst wenn sich nichts ereignet.“ Regula Jäger wusste sehr schnell, dass ihr Wildwechsel das richtige ist für sie: „Ich war zwar körperlich oft sack müde aber im Geist und in der Seele zufrieden. Zufriedenheit ist mein Barometer ob mein Wirken in die richtige Richtung geht.“ Regula Jäger liebt essbare Wildpflanzen. Und der Moment, wo sie ihren Rucksack auspackt und für ihre Gäste selbstgemachte Köstlichkeiten aus Wildbeeren, Blättern, Wurzeln und Blüten hervorzaubert ist immer ein Besonderer. Und zwar zu allen Jahreszeiten, auch im Januar. Denn im Januar sagt sie: „Schade wenn schon im September aufgemuntert wird zum Hagebutten sammeln. Jetzt sind sie doch am besten, wenn sie noch am Strauch sind. Der Frost hat ihre Süsse in die Frucht gejagt und sie vollendet. Warum mögen wir nicht warten? Auf einer Skitour an einem Hundsrosenstrauch eine Pause machen und das weiche, süsse Hagebuttenmark von der Frucht auf die Zunge drücken, gibt es etwas schöneres? Die Vögel, vor allem die Amsel machen es genau so.“
«Viele wissen vor lauter tollen Ideen und vielen Aus- und Weiterbildungen nicht mehr, wo anfangen und was die nötigen Schritte sind, damit sie ihr Ziel erreichen». Cordelia Oppliger hat in ihrem Leben schon vieles organisiert. Grosse Veranstaltungen wie Zürich Multimobil zum Beispiel. Nach einer kaufmännischen Grundausbildung bildete sie sich in Public Relation, Fundraising und Literarischem Schreiben weiter. Und heute begleitet sie Menschen auf dem Weg in die Selbständigkeit, denn wer zu ihr kommt, steckt manchmal einfach fest.
«Sehr oft ist es die Perfektion. Man will eine Idee zuerst durchdenken, von der Ist-Situation bis zum Terminplan. Gerade wir Frauen 50+ haben dies auch noch so gelernt.» Das macht aber schwerfällig. Und es setzt ungeheuer viel Druck auf: «Denn nach soviel Denkarbeit MUSS die Umsetzung perfekt sein.» Cordelia Oppliger bringt deshalb ihre Kundin zuerst dazu, ein Bild ihrer Vision, vom Idealzustand, vom Gipfelziel zu zeichnen, zu kleben, zu fotografieren. Und dann geht es darum, das Gefühl festzuhalten, das kommt, wenn sich die Kundin das Bild verinnerlicht. «Bei mir war das zum Beispiel die Leichtigkeit», sagt Cordelia Oppliger. «Ich will mit Leichtigkeit arbeiten».
In früheren Jahren hat Cordelia Oppliger immer gerade so viel gearbeitet, bis sie wieder das Geld für eine nächste Reise zusammen hatte: «Meine wichtigste Reise war wahrscheinlich jene 2005 durch Westafrika. Ghana, Burkina Faso und Mali sind Länder, die so komplett anders funktionieren. Es gab keine Fahrpläne, es war nichts angeschrieben, ich musste alles erfragen. Wo kann ich übernachten, wie komme ich von A nach B, wo bekomme ich Essen? Es war, als hätte ich mich im Photoshop vom Kontext freigestellt und in einen komplett anderen versetzt. Ich musste mich einlassen, musste wildfremden Menschen vertrauen, mich führen lassen». Um das Zusammenspiel von Inhalt und Kontext hat sie sich auch während ihres Studiums in Curating an der ZHdK beschäftigt: «Ob ich ein Kunstwerk im Kunsthaus sehe oder in der IKEA macht etwas mit unserer Rezeption.»
Und aus dieser Idee heraus hat sie ihre Kaffee-Arbeit gemacht. Wie schnell wir uns vom Kontext irreführen lassen! Sie hat Kaffee in der Espresso-Tasse mit einer Bialetti daneben präsentiert und dann den gleichen Kaffee in einem Schälchen mit einer Sojasauce daneben: «Ersteres suggeriert uns den perfekten Kaffee. Den gleichen Kaffee in einem Schälchen mit einer Sojasauce nehmen wir nicht mehr als Kaffee war. Und in der Spritze neben dem WC wird der feine Kaffee gefährlich. Es ist aber immer der gleiche Kaffee», lacht Cordelia Oppliger. «Durch das Kombinieren von Inhalt und Kontext machen wir eine Aussage». Cordelia Oppliger lernt leidenschaftlich gerne. Zur Zeit lernt Cordelia Oppliger vieles durch ihre neue Selbständigkeit. Hier kommt ihr wieder ihr Organisationstalent zugute – bei der Organisation ihrer eigenen Firma. Die meisten Selbständigen jammern genau über diesen Punkt. „Ich mag die Büroarbeit eigentlich auch nicht, was mich anspornt, mein eigenes Geschäft so effizient wie möglich zu organisieren. Stichwort Automation. Das erleichtert nicht nur mein Arbeitsleben, das ist auch Wissen, dass ich meinen Kund*innen weitergeben kann.»
Mit einundzwanzig hat sie eine Weltreise nach Indien und Indonesien gemacht. Und hoffte schon da, vielleicht dem Dalai Lama zu begegnen. Viel später, nämlich 2017 ging dieser Traum dann tatsächlich in Erfüllung – und war einem glücklichen Zufall zu verdanken. Ursprünglich hat Gina Rüetschi Anästhesieschwester gelernt und war später als Mutter von inzwischen drei erwachsenen Kindern vielseitig engagiert.
Als leidenschaftliche Tänzerin und Percussionistin hat sie Workshops und Kurse in orientalischem Tanz und afrikanischem Trommeln organisiert. Dann entdeckte sie die mächtigen Japanischen Taiko- Trommeln, übte mit einer buntgemischten Gruppe inkl. ihren beiden Töchtern und trat oft und mit Leidenschaft an verschiedenen Anlässen auf. Und sie hat das Erbe der Bananenfrauen weitergeführt und den Frauenfelder Claro-Laden modernisiert. Die Bananenfrauen, bestimmt erinnert ihr euch, haben ab den 70er Jahren als Wegbereiterinnen des Fairen Handels in der Schweiz mit der Frage: «Weshalb ist eine Banane billiger als ein Apfel?» einen Aufpreis auf Bananen gefordert, welcher schlussendlich den Produzentinnen und Produzenten zu Gute gekommen ist.
Gerechtigkeit ist vielleicht das, was Gina Rüetschi am Meisten antreibt. Als Hilfswerkvertreterin hat sie Asylbewerberinnen und -bewerber über viele Jahre bei Behördengängen begleitet. «Das war damals wirklich wichtig, dass jemand hinschaute, damit bei den Befragungen durch die Fremdenpolizei unsere Gesetze eingehalten werden», sagt Gina Rüetschi. Nach einem einjährigen Bildhauerkurs, dachte sie im Alter von um die fünfzig Jahren, vielleicht entscheide ich mich jetzt für die Kunst. Aber dann wurde sie Politikerin und vertritt die Grünen nun seit über elf Jahren im Thurgauer Kantonsrat. Ihr Netzwerk zum Solinetz gab ihr das Gespür dafür, was im kantonalen Asylbereich läuft. Besonders beschäftigt hat sie in den letzten Jahren der Fall, wo Thurgauer Gemeinden doppelt kassiert haben. Obwohl sie vom Bund über die Globalpauschale entschädigt werden, fordern einige Gemeinden die Sozialhilfekosten von Asylbewerbern zurück. Da war zum Beispiel dieser 20-jährige afghanische Flüchtling der von einer thurgauischen Gemeinde beim Abschluss seiner Lehre aufgefordert wurde, eine Schuldanerkennung für 35’731.90 Franken zu unterzeichnen.
«Natürlich ist Politik auch immer wieder sehr frustrierend», sagt Gina Rüetschi. In diesem Fall zum Beispiel nahm der Regierungsrat keine Stellung: er erklärte nur, dass die Rückerstattungspflicht gesetzlich vorgesehen sei und es in der Kompetenz der Gemeinden liege, ob sie darauf verzichten wollten.
Zwei Jahre lang war Gina Rüetschi zusätzlich zum Kantonsrat auch in der Geschäftsleitung der Grünen Schweiz. Dass gerade in diesen Jahren die parlamentarische Gruppe Tibet nach Dharamsala reiste, war ein Glücksfall für sie! Gina Rüetschi begleitete die Nationalrätinnen und erlebte die ganze tibetische Exilregierung, besuchte das dortige Parlament, das Frauenkloster, die Bibliothek, das Kultur- und Medizinzentrum und die tibetischen Schulen für Flüchtlingskinder. Und das Beste und Berührendste der Reise: die private Audienz beim Dalai Lama.
In der Klasse waren zwei Personen über 50, eine davon sie selbst: «Wir machten eine Vorstellungsrunde und alle kamen beruflich aus total unterschiedlichen Richtungen. Die Stimmung war herzlich und sympathisch, wir verstanden uns gut.»
Nathalie Guinand selber hatte sich zu diesem beruflichen Neustart entschieden, weil sie die unstabile Auftragslage in ihrer bisherigen Tätigkeit als freischaffende Fotografin zunehmend belastete: «Mal lief es gut, mal weniger. Auch fehlte mir die Wertschätzung in Bezug auf meine Arbeit.» So schaute sich Nathalie Guinand immer wieder um, arbeitete mal zusätzlich im Gastgewerbe und in einem Freizeitzentrum bis sie eines Tages auf das Stelleninserat der VBZ stiess: «Ich bin in Zürich-Seebach aufgewachsen und Bus- und Tramfahren war in unseren Alltag eingebunden. Da kamen mir so Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend, mit dem 14er in die Stadt runter oder nach Oerlikon in die Schule. Wir waren immer mit dem ÖV unterwegs.»
Nathalie bewarb sich. Zwischen der Zusage der VBZ und dem Beginn der Ausbildung hatte sie ein halbes Jahr Zeit: «In dieser Zeit versuchte ich mich so gut als möglich auf meine neue berufliche Tätigkeit einzustellen. Ich begann wieder vermehrt, Tram zu fahren. Inzwischen gab es auch neue Linien, die ich noch nicht kannte. Ich schaute Filme über das Tramfahren, von der VBZ bekam ich detaillierte Linienpläne und anderes Vorbereitungsmaterial. Die offenen Auftragsarbeiten schloss ich ab und machte vor dem Beginn der Ausbildung einen Monat frei. Um den Kopf frei zu bekommen und das Herz aufzumachen, bereit zu sein. Angst vor dem Wechsel hatte ich nicht, eher so eine Gespanntheit, was alles kommen würde. Später in der Ausbildung hatte ich einen Instruktor, der immer wieder Anspielungen auf mein Alter und meine berufliche Herkunft machte. Ich durfte dann den Instruktor wechseln und hatte dann eine gute restliche Ausbildungszeit.» Über ihre erste Fahrt als ausgebildete Trampilotin lacht Nathalie Guinand heute. Damals war es aber ein extremer Stress: «Diese Fahrt vergesse ich nie mehr – ich fuhr nämlich falsch über eine Weiche und landete mit dem 15er am Neumarkt statt in der Weinbergstrasse. Wenn man morgens in der Rush Hour falsch fährt, und das Tram vollgestopft ist mit Berufsleuten, die an ihre Arbeit wollen – das war grad noch vor dem Lockdown – dann ist das ein sehr unangenehmes Gefühl. Gelinde gesagt! Ich habe dann eine Durchsage gemacht, dass es mir sehr leid tut, und die Fahrgäste sind dann halt ausgestiegen und wieder zurück ans Central.» Heute hat das Tramfahren einen grossen Platz eingenommen in Nathalies Leben: «Ein, zwei Mal wurde ich als Fotografin noch von einer Zeitung angefragt, aber da ich mich bei der SVA abgemeldet habe, kann ich keine Aufträge mehr auf selbständiger Basis annehmen. Ich bedaure das aber nicht. Das Tramfahren ist auch von den Arbeitszeiten und den Schichtzeiten her anspruchsvoll. Ich brauche meine Erholungszeit, die ich mit Lesen, Hundespaziergängen und Kochen ausfülle. Als Fotografin bin ich ein Augenmensch, ich schaue und sehe vieles, diese Eigenschaften kann ich als Trampilotin gut einsetzen. Die beleuchtete Stadt abends, nachts, frühmorgens als erstes Tram vom Depot Oerlikon nach Seebach raus fahren… ich sehe das alles auch im fotografischen Sinn. Das gibt mir ein gutes Gefühl.»
Die Zuständigen waren zunächst skeptisch, ob sie einer 48-jährigen die Ausbildung zur FaBe bewilligen sollten. Früher war sie Betriebsassistentin im textilen Bereich gewesen. „Wegen einer Nieren OP war ich einen Monat im Spital und weitere zwei Monate krankgeschrieben. Das Geschäft wurde in der Zeit verkauft und mir nach neunzig Tagen Krankheit gekündigt.“ Das war ein harter Schlag. Zuerst die Krankheit, dann die Arbeitslosigkeit.
Simone Charles suchte Hilfe bei einer Therapeutin. Ihr erzählte sie, dass sie keine Kraft mehr habe, bestimmt nie mehr arbeiten könne und ihr Leben lang von der Sozialhilfe abhängig sein würde. Nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit landete sie dann tatsächlich bei der Sozialhilfe. Nur war das nicht das Ende. Sie begann ein Praktikum in einem Montessori-Kindergarten.
„Die Arbeit gefiel mir und die Kolleginnen meinten, dass ich die Pädagogin in mir habe.“ Von Anfang an war sie die persönliche Assistenz eines Jungen mit Beeinträchtigungen. „Für den Jungen war die Situation auch neu und unsere 2jährige Zusammenarbeit war ein großer Erfolg.“
Diese besonderen Momente bestärkten sie in ihrem Tun. Sie packte die Ausbildung an und erhielt mit gut fünfzig ihr Fähigkeitszeugnis Fachfrau Betreuung. „Wir haben eine Primarschule und einen Kindergarten; somit betreue ich Kinder von 3,5 bis 12. Von 13:30 bis 18 Uhr. An meiner Seite immer eine Praktikantin. Die Verantwortung liegt nun ganz bei mir und auch, wie ich die Stunden gestalte.
Und meine Erwartungen an mich selbst stiegen oder steigen noch immer. Das ist gut so.“ Den Vormittag hält sie sich frei. Da ist sie mit ihrem Hund unterwegs.
„Ich bin stolz…, dass ich wieder aufgestanden bin. Stolz, die Ausbildung bestanden zu haben. Stolz, auf Veränderung mit 50. Stolz, dass sie mich ausgelernt in der Tagesschule behalten haben.“
Und seine Mutter meint dazu: «Im Prinzip ist seine Kurzdarstellung richtig, ausser dass ich mein Erststudium nicht seinetwegen abgebrochen habe, sondern dass es ihn gibt, weil ich das Studium abgebrochen hab. Mein Mann und ich kennen uns schon aus der Gymi-Zeit und wir haben während des Studiums geheiratet, vor allem, weil wir in eine gemeinsame Wohnung ziehen wollten. Damals waren die Chancen, als unverheiratetes Paar auf dem Land eine Wohnung zu bekommen, eher schlecht. Das Studium – Germanistik, Italienisch und Literaturkritik – habe ich dann nach dem 6. Semester aus verschiedenen Gründen abgebrochen, aber sicher nicht wegen der Kinder, an die ich damals noch gar nicht dachte. Nach der Entscheidung jedoch schon.»
Während ihres Studiums war Franziska Bolli mit dem Studententheater in Zürich, dem Keller 62 an der Rämistrasse 62 in Kontakt gekommen und hatte daran wesentlich mehr Freude gehabt als am Studium. In der Folge gründete sie zusammen mit anderen in ihrem Heimatort Frauenfeld das VorStadttheater, das bis heute besteht. «Nach 40 Jahren am gleichen Ort sind mein Mann und ich 2005 nach Konstanz gezogen», erzählt Franziska Bolli weiter. «Ich realisierte, dass da eine Uni war und beschloss, mein abgebrochenes Studium zu Ende zu bringen.»
Leider hatte sie die Idee ein halbes Jahr zu spät, nämlich im Sommer 2006 und konnte darum nicht mehr im alten Studienmodell weiter machen, sondern musste noch einmal von vorne beginnen, nach den Regeln der Bologna-Reform. «Ich begnügte mich dann mit dem Bachelor-Abschluss, Karriere wollte ich ja nicht mehr machen. Durch dieses Zweitstudium – Deutsche und Italienische Literatur – bin ich auf den Geschmack am Übersetzen gekommen und seit 2010 übersetze ich gerne italienische Literatur- oder Theatertexte ins Deutsche.» «Zwiebelfische» heisst eines der übersetzten Theaterstücke, «Espresso mit Herz» eine zweisprachige Sammlung von Kurzgeschichten.
Zwischen 1997 und 2007 brachte sie zwei Solo-Liederprogramme heraus, gründete mit zwei anderen Frauen zusammen das Ensemble musicaldente und wirkte 2006 bei der Kammeroper im Rathaushof Konstanz mit. Tanz, Gesang und Musik haben sie durch ihr ganzes Leben begleitet. Und dann war da noch «Aschenputtel alla napoletana». Frei nach «La Gatta Cenerentola» von G. Basile und Roberto de Simone hat Franziska Bolli dieses Theaterstück entwickelt und unter ihrer Gesamtleitung und Regie umgesetzt. In Zusammenhang mit diesem zweisprachigen Theaterstück, das Franziska Bolli auf die Beine gestellt hat, kam sie mit dem damaligen Intendanten des Theaters Konstanz in Kontakt und er heuerte sie 2019/ 2020 für sein letztes Intendanzjahr als Dramaturgin an. «Das war ein ungeheuer anstrengendes und aufregendes Jahr, das ich jedoch nicht missen möchte.»
Sie wollte nochmals neu aufbrechen und hat ihre Stelle nach 12 Jahren gekündigt – auf ins Ungewisse.
Nicht zum ersten Mal. Nach ihrer Erstausbildung als Kinderpflegerin hat sie auf dem zweiten Bildungsweg die Matura nachgeholt. „Die ETH hat Anfang der 90er Jahre den Studiengang Umweltnaturwissenschaften eingerichtet und ich war schon im zweiten Jahrgang mit dabei.“ Sie hatte die Vorstellung, danach im Umweltamt einer Stadt oder Gemeinde tätig zu sein. Aber die Wirtschaftskrise Mitte der 90er Jahre führte dazu, dass viele Umweltstellen gestrichen wurden und praktisch niemand aus ihrem Studiengang direkt eine Stelle im Umweltbereich fand. „Bei mir vergingen auch 10 Jahre, bis ich bei den Grünen einen Anknüpfungspunkt zum Studium fand.“ In ihrer Funktion als Parteisekretärin bei den Grünen der Stadt Zürich fand sie den Ort, wo sie ihre persönlichen Ziele und Wertehaltungen auch beruflich umsetzen wollte und konnte. Der Arbeitsalltag sah dann zwar viel nüchterner aus mit Protokolle schreiben, Mitgliederverwaltung machen, Rechnungen bezahlen, was sie aber total gepackt hat war die Zusammenarbeit mit vielen verschiedenen Leuten, alle sehr engagiert und motiviert. „Es war eine äusserst lebhafte und umtriebige Aufgabe, an die ich gerne zurückdenke.“
Ausserdem war Kathy Steiner für die Grünen im Gemeinde- und danach im Kantonsrat. „Der Wechsel vom Gemeinderat in den Kantonsrat war krass. Im Gemeinderat war es mir als Grüne Politikerin möglich, Ideen zu entwickeln und dafür die Unterstützung einer Mehrheit zu gewinnen. Im Kantonsrat hatte ich mit meinen sozialen und ökologischen Anliegen wenig Chancen. Umso wichtiger war mir, das Fähnlein trotzdem hochzuhalten gegen Flüchtlings- und Sozialhilfebashing, Diskriminierung, Neoliberalismus und noch gegen einiges mehr. Ein paar Mal hat es mich „verjagt“ und ich musste am Mikrofon spontan Dampf ablassen. Das tat dann gut.“ Trotzdem! „Es war eine interessante und intensive Tätigkeit, sie war mir sehr wichtig und ich habe es gerne gemacht.“ Aber es hat auch sehr viel Zeit beansprucht und sie stark absorbiert. Mehr unverplante Zeit zu haben, ist ein Luxus, das spürt sie jetzt: „Spontaneität ist wieder möglich. Das ist befreiend.“
Ihr Aufbruch ins Unbekannte ist Kathy Steiner gelungen. Heute ist sie Geschäfts-leiterin bei Casafair Schweiz. In diesem Verband geht es um gesellschaftliche und ökologische Verantwortung von Wohneigentümer*innen, um innovative Wohnformen und zukunftsfähige Lösungen. Bei Casafair arbeiten alle Teilzeit und es ist Kathy Steiner ein grosses Anliegen, dass neben der Arbeit Raum bleibt für Familie, Politik, Kultur, Sport oder auch Nichtstun. Und wie hat Kathy Steiner selber Familie und Arbeit zusammen gebracht? „Das Nebeneinander ist unterschiedlich gut gelungen, zu Familie und Beruf ist ja noch die Politik hinzugekommen. Ich habe selten vorausschauend geplant. Eines ist zum anderen gekommen: Beruf, Kind, Politik. Zusammen mit meinem Partner habe ich angepackt und gemacht, was es zu tun gab und am Ende des Tages war viel erledigt und halt auch einiges noch nicht. Hier hat uns sicher eine gewisse Gelassenheit geholfen und die Gewissheit, dass wir auch den nächsten Tag meistern. Teamplayer!“
Einmal brachte er seine Handorgel mit und spielte vor dem Essen auf seinem Instrument. R. und C. tanzten dazu.
Mit 51 Jahren hat Maya Muralt im Jahr 2001 die Stelle als Köchin in der Villa Stucki Bern angetreten, wo sie ein Team aus erwerbslosen Menschen anleitete. «Am meisten machte mir Freude, wenn Frauen aus anderen Kulturen Essen aus ihrem Heimatland zubereiten und im Restaurant servieren konnten.» Und nebenher hat Maya Muralt ihr eigenes Catering aufgebaut.
Ein gerader, zielgerichteter Weg kam für die Lebenskünstlerin nie in Frage. Sie hatte immer spüren wollen, wie sich Arbeit in allen Facetten anfühlt und arbeitete als Putzfrau, in der Metzgereiabteilung eines Grossverteilers, im Service, im Altersheim, als Barfrau und in der Fabrik am Fliessband.
Malen, Zeichnen, Nähen, Gestalten! Das sind die Dinge, die sie am Liebsten macht: «Ich wollte aber nicht unter den Druck geraten, damit mein Geld verdienen zu müssen. Also bin ich von einem zum andern gehüpft und gesprungen.» Und dann also das Kochen! Nach fünf Jahren in der Villa Stucki machte sich Maya Muralt mit 56 gänzlich selbstständig mit dem Catering. Und sie wurde von FragileSuisse angefragt, ob sie einen Kochkurs für Menschen mit Hirnverletzung leiten würde. Maya Muralt sagte zu. Es hat sie tief beeindruckt, wie Menschen wie S. oder R. und C. ihr Leben nach einem schweren Unfall, einer Hirnblutung oder einem Hirnschlag mit körperlichen und sprachlichen Einschränkungen meistern. Einige der Teilnehmenden besuchten den Kochkurs während der ganzen 12 Jahren alle 14 Tage. «Ich vermisse das Zusammensein heute oftmals sehr. Aber die Arbeit, das Einkaufen wurde mir zu anstrengend, meine Beine, mein Rücken schmerzten immer stärker, so dass ich nach 12 Jahren beschloss, den Kurs aufzugeben.»
Und wieder packte sie Neues an und schloss mit 61 als weitaus Älteste den Lehrgang zur Ausbildnerin Gestalten ab. «Da ich mir meine Pensionskasse hatte auszahlen lassen, als ich mich selbstständig gemacht hatte, konnte ich mir die Ausbildung auch leisten. Ich habe so viel gelernt in diesen 3 Jahren – und ich wusste, ich mache die Ausbildung nur für mich selbst, ich hatte nie den Plan, gestalterische Kurse anzubieten.» Inzwischen arbeitete sie bei Artha Samen und bekam dort die Möglichkeit, die Bilder für die Etiketten der Wildblumen-Samenmischungen zu malen. «Damit kam ich ganz zurück in meine Kinderzeit, zu den Bildern aus dem Buch «die Wurzelkinder» und obwohl ich schon dachte, das sei jetzt aber keine wirkliche «Kunst» macht es mir bis heute Mega-Freude, diese Bilder zu malen.»
Und daneben macht Maya Muralt Viecher. So nennt sie die Fabelwesen, die sie aus Papier und Kleister kreiert. «Kunst», sagt sie, «bedeutet mir, meinen ganz eigenen Raum zu haben, einzutauchen in meine innere Welt, und dem Schönen und Hässlichen, das mich fasziniert, Ausdruck zu geben.»
„ Im Restaurant stösst das auf Widerstand. Gemeinsam haben wir reflektiert, was den Wirten und Stammgästen nicht gefiel und sie änderte ihr Verhalten, in dem sie den Teller mit einem Stück Brot ausputzt“, Daniela Hoffmann hat sich mit 54 Jahren als Sozialbegleiterin selbständig gemacht. Sie ist Fachfrau für die verlässliche Begleitung von Menschen in herausfordernden Lebenslagen.
Sozialbegleitung versteht sich aufsuchend. «Ich bin zuversichtlich, dass die Sozialbegleitung ein Beruf der Zukunft ist. Je länger je mehr, werden Menschen ambulant statt stationär betreut.» Daniela Hoffmann erhält ihre Aufträge von den betroffenen Menschen oder ihren Familien selber, von der Sozialbehörde oder manchmal von Stiftungen. «Menschen müssen nicht so sein, wie die Gesellschaft es uns allen vorschreibt», sagt sie. «Ich fühle mich parteiisch zu den Menschen, die etwas schräg sind oder sich in schrägen Lebenssituationen befinden.» Akzeptanz und Wohlwollen sind zwei wichtige Arbeitsinstrumente, mit denen Daniela Hoffmann ihre Klientinnen und Klienten unterstützt, damit sie nicht abstürzen, damit sie den Alltag schaffen, damit sie von ihrer Umgebung nicht stigmatisiert werden. Zum Beispiel war da die Rentnerin, die in einem Messie-Haushalt lebt und immer wieder in der Nachbarschaft aneckt. Daniela Hoffmann vermittelt, schafft Verständnis, das Quartier kommt zur Ruhe. «Ich kann von meinen Aufträgen leben. Viel übrig bleibt Ende Monat zwar nicht aber damit habe ich kein Problem», sagt Daniela Hoffmann. Sie kann das. Mit wenig Geld auskommen. «Früher hatte ich manchmal für ein Wochenende noch zehn Franken übrig. Dann gab es halt Nüdeli. Das hat mich nicht gestresst. Meine Tochter sagte kürzlich: «Weil wir jeweils so wenig hatten, bin ich jetzt kreativer, wenn es knapp wird. Es war gut, das zu lernen.»» Daniela hat Augenoptikerin gelernt, bekam früh Kinder und arbeitete jeweils am Abend in einem Genossenschaftsrestaurant im Service. Dann war sie Gymnastiklehrerin, hat Aquafit unterrichtet und an der Hallenbadkasse hat sie Eintritte verkauft. Immer wieder war sie alleinerziehend. Für die Kinder erhielt sie Allimente aber es ist ihr wichtig, zu betonen, dass sie für sich selber stets alleine gesorgt hat und ökonomisch unabhängig war. Schliesslich hatte sie acht Jahre lang einen Job in der Jugendarbeit und überlegte sich, eine Ausbildung im Sozialen zu machen. So bildete sie sich berufsbegleitend zur Sozialbegleiterin aus. Der nicht immer leichte Weg, den ihr Leben genommen hat, hilft ihr jetzt. Das Verständnis, dass man in schwierige Situationen geraten kann, ist da. Da ist zum Beispiel diese alleinerziehende Mutter, die komplett erschöpft ist, der die jugendlichen Kinder auf der Nase herumtanzen und die keine Kraft mehr hat, von ihren Kindern die Mithilfe im Haushalt einzufordern. Daniela sagt: «Manchmal hilft es auch, wenn ich Menschen in solchen Extremsituationen aufzeigen kann, dass es durchaus noch ein neues Kapitel in ihrem Leben geben kann. Diese Frau hat das Gefühl, dass alles vorbei ist, dass es nie mehr besser wird. Aber das ist nicht so. Wir haben alle durchaus noch weitere Kapitel». Für die Beschreibung ihrer Arbeit verweist Daniela Hoffmann gerne auf den Pinguin-Vergleich von Dr. Eckart von Hirschhausen. Er sagt der Pinguin an sich sei von plumper Statur, seine Flügel sind zu kurz, und wenn er an Land watschelt, wirkt er unbeholfen und ein wenig lächerlich. Aber taucht er in das Wasser ein – sein Element – so zeigt er sich als genialer. «Es geh mir darum, gemeinsam mit meinen Klient*innen, ihr Element wieder zu finden, oder sich zumindest in dessen Nähe zu trauen, oder sich den Weg dorthin nicht noch weiter zu erschweren oder sogar zu verbauen. Immer geht es in meiner Arbeit also um Empowerment, um das Finden oder das Stärken von Selbstbewusstsein.»
«Und dann wunderte sich unsere Tochter, dass die Shetlandponystute, die wir frisch gekauft hatten, so dick war. In der Nacht kam ein Fohlen auf die Welt, von dem wir unerfahrenen Pferdebesitzer nichts geahnt haben.»
Das war am 1. Juli 1985. Die ausgebildete Primarlehrerin und schulische Heilpädagogin hatte ihre Pensionskasse aufgelöst, um Pferde zu kaufen und hatte den den Rösslihof Grundweidli in Wald AR gegründet. Als Beraterin für Sonderschulen ist sie auf die Arbeit von Marianne Gäng, der Begründerin und Pionierin des Heilpädagogischen und Therapeutischen Reitens in der Schweiz gestossen. Hildegard Camenzind erkannte sofort, welches Potential im Heilpädagogischen Reiten liegt.
Sie war eine gute Reiterin, hatte aber bis anhin keine eigenen Pferde. Fütterung, Haltung, Pflege will gelernt sein, das merkte sie schnell.
Hildegard Camenzind mag das tibetische Sprichwort aus dem Nationalepos König Gling ge sar: Wenn man dem Pferd nicht vertraut, wem soll man dann vertrauen. „Meine Pferde haben mich viel gelehrt. Und dafür bin ich meiner alten Herde, die jetzt schon im Pferdehimmel ist, sehr dankbar.» Die Liebe zu den Pferden hat Hildegard Camenzind von ihrem Grossvater. Er war der Braumeister der Brauerei Falken in Schaffhausen und ist noch nach der Pensionierung mit dem Einspänner auf Kundenbesuch gefahren. Seine Enkelin durfte mit. Das war während dem 2. Weltkrieg.
Eigentlich dachte Hildegard Camenzind an ein kleines Altersprojekt als sie den Reithof aufbaute. Aber es kam anders. Nach zehn Jahren mussten sie vergrössern. «Wir sind nach Grub AR umgezogen und der Reithof in der Rüti ist heute eine anerkannte Stiftung für betreutes Wohnen und geschützte Arbeitsplätze, berufliche Massnahmen über die IV und Reitsportzentrum für Menschen mit Handicap durch Special Olympics Reiten.» Ausserdem ist es das Verdienst von Hildergard Camenzind, dass die Ausbildung zur Reitpädagogin SV-HPR professionalisiert wurde.
Heilpädagogisches Reiten hilft Blockaden überwinden. «Da war der Zweitklässler, der bei uns Lesen lernte, weil er unbedingt die Pferdenamen wissen wollte.» In diesem Jahr wird Hildegard Camenzind 87 Jahre alt wird und sie schaut gerne zurück: «All die Reitkinder mit Handicap und ohne, die ihren Weg im Leben gemacht haben, unsere Lernenden der IV-Massnahmen, die sich im ersten Arbeitsmarkt bewähren – und die von Anorexie betroffenen Mädchen, die ihr Leiden mit dem Ross überwinden und eingrenzen konnten und heute selbstbewusste, starke Frauen sind.“ Und das Fohlen, das 1985 zur Welt kam? «Natürlich haben wir uns über das Fohlen gefreut und nannten es Luna, weil in der Nacht ein grosser roter Mond am Himmel stand.»
Tamara Pabst lebt mit ihrer Familie mit drei Kindern in Winterthur und sagt: «Unser Leben ist geprägt von mehreren Kulturen und einem Chromosom mehr.»
Während 20 Jahren arbeitete Tamara Pabst in eigener Praxis für Lebensberatung und Meditation mit Erwachsenen. Durch ihren Sohn mit Trisomie 21 hat sich Tamaras Praxis verändert: «Heute begleite ich hauptsächlich Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung und ihre Angehörigen. Es ist mir ein grosses Anliegen, Menschen, welche mit einer sogenannten kognitiven Beeinträchtigung leben, sowie ihre Familien mit all meinen Kräften zu unterstützen. Die Herausforderungen können für alle Beteiligten vielfältig sein. Darüber zu sprechen und mit jemanden gemeinsam darüber nachzudenken, kann oft hilfreich sein. Was ich vor allem von und mit meinem Sohn Rishi gelernt habe: wir alle haben unsere ureigene Zeit, unseren unveränderbaren Herzschlag und Rhythmus. Wir sind alle wertvoll, genau so, wie wir sind. Wäre es im Alltag manchmal bequemer, wenn es schneller ginge? Sicherlich. Und dann merke ich wieder, wie eine authentische Begegnung erst möglich wird, wenn wir uns auf die Zeit des anderen einlassen.»
Im Jahr 2019 startete Tamara dann ihrem eigenen Herzschlag folgend ein neues Projekt: sie beginnt, einen inklusiven Garten zu schaffen, setzt Eibisch, Baldrian, Alant, Kornblumen, Mohn, Schafgarbe und Meisterwurz, trocknet Kräuter zu Tee und nennt den Garten Eden21. Und Rishi hilft: wenn er nicht in der Erde arbeiten mag, arbeitet er an seinen rosa Steinen, die nun neben den neu gesetzten Pflanzen liegen. Eden21 ist offen für alle. Menschen mit einer sogenannten Beeinträchtigung bauen ihren eigenen Tee an. Bereits im dritten Jahr nun will Eden21 wachsen. Tamara Pabst sagt: «Angesichts der Freude und der Fülle, die uns der Garten beschert, nehme ich den zweiten Schritt in Angriff: grösser werden.» Das Ziel: ein inklusiver, nachhaltiger Betrieb, der zwei bis vier Menschen eine Arbeitsmöglichkeit bietet. Am Rande der Stadt hat sie nun dank einer glücklichen Begegnung Land gefunden. Im Frühling sollen die ersten Spatenstiche getan werden. Auf dem Weg in eine noch vielfältigere und grünere Welt freut sie sich über Menschen mit grünem Daumen, mit und ohne Beeinträchtigung, die mit Freude und Tatkraft anpacken mögen.
„Endlich darf ich alle Themen bearbeiten, die ich will, die für mich respektive für die Schule Sinn machen». Rahel Tschopp hat sich zu ihrem 50. Geburtstag die Selbständigkeit geschenkt und die Denkreise GmbH gegründet. Ihr Schwerpunkt ist die Schule in der Digitalkultur.
Das Thema beschäftigt sie schon lange. 2006 hat sie das Projekt CompiSternli gegründet. CompiSternli ist ein Generationenprojekt: Kinder bilden ältere Personen am Computer, am Handy oder am Tablet aus. Rahel Tschopp arbeitete immer im Bildungsbereich, als Lehrerin, Heilpädagogin, Schulleiterin. An der Pädagogischen Hochschule leitete sie das Zentrum Medienbildung und Informatik. «Diese vier Jahre waren unglaublich lehrreich», sagt sie. «Ich war zusammen mit meinem stark wachsenden Team zuständig für die Nachqualifikation von rund 3000 Lehrpersonen. Ich kam ab und zu an meine Grenzen, chrampfte oft sieben Tage in der Woche. Ich lernte, wo meine Achillessehne ist. Es machte mir einerseits praktisch nichts aus, Fernsehinterviews zu geben. Andererseits verlangten mir Auseinandersetzungen mit internen Stellen um zum Beispiel die Auswahl von Fotos auf einem Flyer zum Teil unverhältnismässig viel Energie ab.»
Am International Visitor Leadership Program im März 2020 ging sie mit Menschen aus zwanzig Ländern, zum Beispiel aus Bangladesh, Grönland und Brasilien, dem Thema «Education in the digital age» nach: «Das hat mir den Blick in die grosse Welt geöffnet.» Als Leiterin des «CAS Lernreise» geht sie in diesem Jahr gemeinsam mit den Teilnehmenden der Frage nach, wie Schule in der Digitalkultur sein könnte. Ziel ist, dass die Teilnehmenden sensibilisiert und inspiriert sind, um in ihrem direkten Umfeld Handlungsspielräume zu erkennen und Veränderungen umsichtig anzugehen. Heute ist etwas vom wenigen, was in Rahel Tschopps Arbeitswoche fix ist, die Englischstunden, die sie sich leistet. Digital natürlich. «Diese Stunden mit meiner Lehrerin in Kanada sind mir heilig.» Wie auch die frühmorgendliche Bewegung mit ihrem Husky. Im Winter auf den Langlauf- oder Tourenskis. Rahel Tschopp hat sich über die Jahre ein grosses Netzwerk aufgebaut. Das hat bei der Selbständigkeit geholfen. So fragt sie sich nicht, ob es ihr gelingt, genügend Aufträge zu akquirieren. Sie fragt sich: «Was passiert, wenn ich etwas auslöse; und ich nicht selbst nachkomme mit der Arbeit? Es ist nicht so, dass ich einfach jemanden anstellen könnte; dafür ist meine Ausrichtung respektive meine Arbeitsweise zu speziell.» Rahel Tschopp versucht, sich selber keine Denkgrenzen aufzuerlegen. Sie will sich ihrer unkonventionellen Art und ihren Werten treu bleiben: «Zudem bin ich dran, meine eigenen Glaubenssätze zu ergründen, zu hinterfragen und je nachdem neu zu formulieren. Ich war beinahe 30 Jahre lang eine äusserst scheue und unsichere Person – dieses Verhalten hat mich geprägt, gewisse jahrelang antrainierte Muster muss ich aktiv bekämpfen.» Heute hat der Spruch «Es liegt an mir» einen tiefen Sinn bekommen: «Denn es liegt wirklich einfach alles an mir. Dies tut unglaublich gut. Ich merke erst jetzt, wie befreiend dies ist, wenn das riesengrosse «Aber» nicht schon auftaucht, bevor ich einen Gedanken nur schon angedacht habe. Ich entscheide, wie weit ich denke und handle. Ich trage die Verantwortung, ich trage die Konsequenzen, bewusst und gerne.»
15 Jahre hatte sie als Redaktionssekretärin bei der Neuen Schwyzer Zeitung gearbeitet. Im Sommer 2013 wurde klar, dass die Redaktion in Schwyz geschlossen wird. „Es machte mir riesig Angst und nein, ich hatte absolut gar keine Lust auf Veränderung“, erinnert sich Blanca Imboden. „Mir war sofort bewusst: Das würde schwierig werden, mit über Fünfzig. Natürlich findet man immer irgend eine Arbeit. Aber ich wollte wieder GERNE arbeiten.“
Weil Bianca Imboden ein Buch über den Stoos geschrieben hatte und häufig da gewesen ist, fragte man sie an, ob sie bei der Bergbahn arbeiten möchte: „Ich bin heute ein wenig stolz auf mich, dass ich so etwas radikal Neues gewagt habe. Ein Job, der auch körperlich etwas gefordert hat. Raus aus dem komfortablen Büro mit der Bodenheizung. Hinein in die Natur, auf den Berg, ran an die Schneeschaufel oder den Schraubenzieher.“ Blanca Imboden hat viel gemacht in ihrem Leben: Nach der Handelsschule bei der AHV, an der Migros-Kasse und in einer Möbelabteilung gearbeitet, sogar bei Victorinox kleine rote Messer in kleine rote Schachteln verpackt. Dann 15 Jahre lang professionell Musik, Tanzmusik, gemacht. Anschliessend war sie ein Jahr bei Ex-Libris angstellt. 15 sehr glückliche Jahre arbeitete sie als Redaktionssekretärin bei der Neuen Schwyzer Zeitung, bis diese Redaktion aufgelöst wurde.
„Die Monate auf Arbeitssuche, die haben mich geprägt. Jede Absage ist wie ein Schlag, selbst wenn man sich irgendwo beworben hat, wo man gar nicht unbedingt hinwollte.“ Gut, dass sie gerade mit dem Buch WANDERN IST DOOF grossen Erfolg hatte. Das trug sie. „Aber ich wusste, davon kann und will ich nicht leben.“ Dann kam diese Arbeit am Berg. An ihrem ersten Arbeitstag bei der Seilbahn auf dem Stoos war sie schwer krank. Eine Lungenentzündung! „Mein erster Arbeitstag. Ich konnte mich wirklich nicht krankschreiben lassen.“ Deshalb pumpte sie sich mit Medikamenten voll.
Heute ist Bianca Imboden Bestsellerautorin „Nachdem ich Einblick in so viele Jobs hatte, weiss ich es um so mehr zu schätzen, dass ich jetzt vor allem mit SCHREIBEN meinen Lebensunterhalt verdienen kann.“, sagt sie. „Ich habe schon weit über 150’000 Bücher verkauft. Dazu habe ich viele gut bezahlte Lesungen.“ Letztere sind nun wegen Corona natürlich weggefallen. „Weisch“, sagt Blanca Imboden, „in meinem Leben musste ich mich schon oft neu erfinden, aber daran war ich zum Teil auch selber Schuld. Ich wollte halt meine Träume leben. Trotzdem: Ich würde alles genau wieder so machen. – Mehr oder weniger.“
«Und jetzt hat mein Sohn den Betrieb von seinem Vater übernommen.» Ursprünglich lernte die Wahltessinerin in den 70iger Jahren Keramikerin an der Kunstgewerbeschule in Bern: «Damals lebte ich in GrossWG’s mit über zwanzig Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern.»
Nach der Ausbildung ging sie für einen Sommer ins Tessin auf die Alp zu ihrem Freund, einem gelernten Landwirt. «Er hatte bei der Einweihung des AKW Gösgen beschlossen, alternativ zu leben». Und aus diesem Sommer wurden dann 21 Jahre. Die ersten sieben Jahre lebten sie als kleine Familie ganzjährig auf ihrem Monti, 1300 Meter über Meer. Nur zu Fuss in eineinhalb Stunden Wegzeit erreichbar. Ohne Telefon, im Winter vollkommen abgeschnitten von der Welt.
«Wir waren sogenannte Aussteiger, wir selber bezeichneten uns eher als Einsteiger und hatten ein einfaches, arbeitsreiches Leben mit bewusstem Konsumverzicht und fast ausschliesslicher Handarbeit gewählt.» Das Paar galt in diesen Jahren auch als Pioniere bei der Direktvermarktung ihrer Produkte. Der Ziegenkäse oder das Gitzifleisch gingen an Privatpersonen, an alternative Läden oder Genossenschafts-beizen: «Und wir hatten einen grossen Selbstversorger-Garten.» Als ihr Sohn drei Jahre alt war, gründete Teresa Rosellina im Dorf unten eine Spielgruppe und ging zwei Mal pro Woche hinunter: «So konnte unser Sohn auch etwas in das soziale Leben mit anderen Kindern integriert werden.» Aus dieser Spielgruppe ist dann ein offizieller Kindergarten entstanden: «Und als dann unsere Tochter zur Welt kam, konnte unser Sohn den Kindergarten besuchen und nachher die Dorfschule.»
Teresa Rosellina lebte in dieser Zeit während der Woche mit den Kindern im Dorf unten. Als die Kinder grösser waren und in die Tagesschule ins Nachbarsdorf gingen, ist Teresa Rosellina oft den Tag über auf das Monti arbeiten gegangen und kam gegen Abend wieder hinunter ins Dorf. Ihre textilen Kunstwerke konnte sie in etlichen Ausstellungen zeigen, zum Beispiel als Schweizer Vertreterin in einer grossen internationalen Textilkunstausstellung in Lodz, in Polen. «Ich habe in dieser Zeit immer auch Gelegenheitsjobs gemacht, wie Wohnung malen oder für andere Leute die Gartenarbeiten und auch ein Nachbarskind mit Down Syndrom an zwei Tagen in der Woche betreut.» So kam Teresa Rosellina zur sozialen Arbeit. «Zu dieser Zeit zeigte sich auch, dass meine Jahre als Bäuerin zu Ende gingen.» Die Kinder wurden erwachsen und gingen für ihre Ausbildung in die Deutschschweiz.
Teresa Rosellina suchte einen neuen Lebensplatz. Drei Tage pro Woche arbeitete sie im Raum Zürich als Gruppenleiterin in der Beschäftigung einer Institution für mehrfach-schwerbehinderte junge Erwachsene. Die anderen Tage fing ihr Leben in der alten Villa Rosellina im Bleniotal an, zu der sie durch einen wundersamen Zufall mit 42 Jahren geführt worden war. 2011 richtete sie im Bleniotal in einer kleinen Institution für Kinder und Jugendliche das Mal- und Keramikatelier ein und übernahm dort den künstlerischen Unterricht. «Unter der Bedingung, dass ich noch die Ausbildung zur Sozialpädagogin an der Höheren Fachschule in Lausanne auf anthroposophischer Basis absolviere». Im 59. Lebensjahr hat sie diese Ausbildung erfolgreich abgeschlossen. Die Institution aber wurde 2018 geschlossen und Teresa Rosellina mit 61 Jahren arbeitslos. Sie hat keine neue Stelle mehr gefunden, in ein paar Wochen wird sie pensioniert und sagt: «Ich bin noch voller Tatendrang und Inspiration für mein weiteres Leben».